Die Sage über die Entstehung des Alacher Sees und das Verschwinden des Kloster Orphal

Wenn Du von unserem Ort aus gen Osten auf der Straße nach Schaderode wanderst, so kommst Du an einen Sumpf, der von hohen Uferwänden umgeben, vom Mollbach durchflossen wird. Ehemals war dieser Sumpf bedeutend größer. Er reichte südwärts bis zu den Alacher Wiesen, er war tiefer, war gefüllt mit Wasser, ein richtiger See. Heute gibt uns der Mollbachlauf noch Zeugnis seiner einstigen Größe. Auch der Ortsname "Alach" verdankt diesem See die Entstehung "die Aue an der Lache".

Der Beobachter wird bald finden, dass die östliche Uferwand terrassenförmige Einschnitte aufweist, er wird im Norden zwei niedrige Berge, nur durch einen Sattel verbunden, bemerken. Wendet er seinen Gang über diesen hinweg, so gelangt er nach kurzem Marsch ins Tal des Weißbaches. In diesem stößt er bald auf eine alte Mühle, die im Grunde des Weißbachtales gelegen, den Namen "Grundmühle" trägt.

Heute erinnert nichts mehr an die alte klösterliche Pracht, nichts mehr an Glockenklang und Orgelton, wie auch vom Alacher See nur noch Spuren zu finden sind. Nur im Frühjahr, wenn durch die Schneeschmelze bedingt, der See wieder entsteht, herrscht auf dem Wasser das fröhliche Gewimmel der Wildenten. Gegen Abend klingeln ganze Scharen durch die Lüfte und erfüllen die Gegend mit ihren heiseren Schreien. Dann ist hohe Zeit für die Falken und Habichte, die sich manchen Braten herausgreifen. Zur Sommerszeit aber liegt der Rest des Sees im dösigen Schweigen, nur die Rohrkolben erzählen eine schaurige Geschichte. Wo blieb das Kloster? Warum finden wir nichts mehr von ihm? Wie sind die Terrassen am Ufer des Sees entstanden? So fragt der Wanderer. Und die Lüfte und Wolken, das Gestrüpp des Ufers und die raschelnden Rohrkolben erzählen die Sage, die die rechten Ohren und das rechte Herz hat, wird auch noch heute die seltsame Mär (Mär = veraltet für Nachricht, Sage) verstehen.

Sage

Die Arbeit der Mönche des Orphalkloster war von großer Schwierigkeit. Sie rodeten die Wälder, legten Wiesen trocken, bebauten die Felder und richteten an den Südhängen der Berge viele Weinberge ein. Gott segne ihren Fleiß und reiche Ernten brachten ihnen die Weinberge, die Wiesen und Felder. Immer mehr Scheunen mussten sie bauen und in ihrem Klosterkeller lag ein Fass neben dem anderen, groß und dick und alle mit edlem, schwerem und süßem Wein gefüllt. So konnten nun die Mönche sorglos leben. Und sie taten es auch.

Sie aßen gut und viel und tranken von dem guten Wein immer mehr und mehr. Ganze Nächte saßen sie um den Tisch und tranken aus mächtigen Krügen bis zum Morgen. Dann aber schliefen sie den lieben langen Tag, wurden fett und dick und faul und träge. Deshalb mochte die Arbeit gar nicht mehr schmecken, sie ließen die Knechte schaffen und schliefen. Und wenn der Bruder Glöckner dann auf dem Kirchturm das Glöcklein anschlug, das sie zum Beten rufen sollte, dann hörten sie es gar nicht oder sie drehten sich herum und schliefen weiter. Bald waren alle Fenster des Kirchleins mit Spinnwebnestern ausgefüllt, das Schlüsselloch war dicht voll davon, dass kein Schlüssel mehr die Tür öffnen konnte und im Innern, ach da lag der Staub so dick und sogar das Bild des Herrn Jesu war ganz und gar eingesponnen, sodass nur von der Dornenkrone und dem großen Nagel im Fuß eine Kleinigkeit zu sehen war. Musik machen jetzt die Ratten und Mäuse, denn die Orgel schwieg.

Die Mönche des Kloster Orphal bei der Arbeit.Die Mönche des Kloster Orphal bei der Arbeit.

Mehr und mehr vergaßen die Mönche den lieben Gott, ja sie schimpften auf ihn, weil er jetzt auf ihren Feldern so wenig wachsen ließ. Das war Gottes Strafe, weil die Mönche ihn vergessen hatten.

Einstmals, es war die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, da saßen die Mönche nachts wieder zusammen und tranken. Schon mancher war betrunken, als (es mochte gerade Mitternacht sein) an der Klosterpforte heftig geklopft wurde. Langsam ging der Pförtner hinaus, schob das Kläppchen an der Tür beiseite und fragte: "Wer begehrt in unsern Mauern zu so später Stunde Einlass?" Eine tiefe Stimme antwortet: "Ein Wandersmann, der sich verirrt hat! Ach lass mich ein, tief ist der Weg verschneit, die Kälte lässt meine Glieder klappern, morgen früh will ich weiter. Gebt mir ein Lager für die Nacht!" Da brannte der Pförtner sein Lämpchen an, schob den großen eisernen Torriegel zurück und ließ den Fremden ein.

Es war ein baumlanger Kerl, wirr sah das brandrote Haar unter dem breiten schwarzen Hut hervor, der tief im Gesicht saß. Hohe Stiefeln trug der Fremde an den Beinen, und mit dem rechten hinkte er. Der Pförtner wollte dem Ankömmling in die Augen sehen, da kam plötzlich ein heftiger Windstoss und blies das Lichtlein aus. Stockfinster war es, und der Pförtner musste erst drinnen im Saal an der Kerze seine Lampe anbrennen. Der Fremde folgte ihm. "Ha, Bruder Pförtner, was bringst Du uns da für einen späten Gast?" So lärmten ihm die Mönche entgegen. "Ein müder Wanderer, der bei dem hohen Schnee Weg und Ziel verlor, halb erfroren, hungrig und durstig", so antwortet der Fremde. "Dann tritt herzu und iss und trink," sagte der Vorsteher der Mönche, "noch langt es für Hungrige und Durstige, wenn auch von Jahr zu Jahr die Ernten weniger und der Wein sauerer wird!" "Gerne." Und der Fremde nahm den Krug, den der Kellermeister ihm reichte, setzte sich und trank mit einem Zuge das große Gefäß leer. "Brr, wie sauer" sprach er dann. "Ja, sauer! Kannst Du aber aus sauren Trauben süßen Wein machen?" "Ja" sagte der Gast ruhig, "und noch mehr." Und nun erzählte er von fremden Ländern und was er dort gelernt hatte, Zaubereien, geheimnisvollen Tränken und Wundertee.

"Du bist ein Teufelskerl" meinte ein Mönch. "Bin ich auch." "Dich lassen wir nicht wider fort, Du musst unsere Felder fruchtbar machen, den Wein so gut, wie er früher war." So riefen durcheinander die Mönche ihm entgegen. Ruhig saß der Fremde da und lächelte. "Alles will ich für euch tun, euch Reichtum und Macht verschaffen, Fruchtbarkeit der Felder verleihen, den Wein süßen. Aber dazu brauche ich etwas." "Sprich" riefen die Mönche, "Du sollst es erhalten und verlangtest Du unsere Seele."

Ein Wind rüttelte plötzlich an den Fenstern, dass die Scheiben klirrten, ein eiskalter Luftzug strömte durch den Saal und plötzlich, horch ganz langsam und leise begann die Glocke zu tönen, wie eine mahnende, warnende Stimme, dann wurde sie wieder leise und jetzt noch einmal von ihr ein Klang, lang gezogen, wie Trauer und Leid zu hören, und dann war sie wieder still. Und als ihr letzter Summton verklungen war, verlöschten plötzlich die Lichter im Saal. Bleich und blass, verschrocken bis zum Tode saßen die Mönche da, starr und stumm. Eine Nadel hätte man fallen hören. Aber schon erklang die Stimme des Fremden durch den Saal. "Ha, Ihr feiges Kuttenvolk, lasst Ihr euch von jedem Windhauch erschrecken und fürchtet euch vor Glockenklang?"

"Wein her, Wein her, Wein, Wein, Wein!" Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass Becher und Kannen klapperten mit einem Schlage brannten alle Lichter wieder. "Füllt die Becher und stoßt an!" Er sprang auf den Tisch, ergriff den größten Krug, mit einem Schlage trank er ihn leer. "Nun zeigt Ihr, ob Ihrs lassen könnt" rief er. Da tranken die Mönche um die Wette, aber keinem gelang, was dem Fremden gelang. Immer neue Fässer wurden aus dem Keller geholt, immer mehr getrunken, immer gottloser die Reden der Mönche. "Ein ganzes Fass, her damit!" Sie rollten es herbei, er hob es auf, er setzte es an und im Nu war es in langen Zügen ausgeleert. Die Mönche schrieen und klatschten Beifall. "Wenn der Alacher See voll Wein wäre, Du tränkst ihn auch leer" meinte einer. "Eine Kleinigkeit für mich, und wenn es Wasser wäre." "Er lügt! Das kann er nicht" johlten die Mönche. "Wir wollen wetten" riefen andere, "ja wohl, wetten wir" riefen andere. "Ja wohl, wetten wir" sagte ruhig der Fremde. "Um was? Ehe in Alach der Hahn kräht, habe ich den See ausgetrunken." "Um alles Gold der Welt" schrieen die Mönche. "Es sei, doch gewinne ich, verlange ich von jedem von euch ein Tröpfchen Blut." "Der Narr, das soll er haben." Nach Mitternacht, dunkle Wolken ziehen am Himmel entlang und schleichen an der blanken, bleichen Sicht des Mondes vorüber. Vom Kloster Orphal naht ein Zug lärmender und schwankender Gestalten, es sind die Mönche. Bleiches Lampenlicht wirft gespenstige Schatten auf den Schnee. Vornweg stampft der fremde, schwarze Gast, seine Augen glühen wie zwei feurige Kohlen, sein rotes Haar wie züngelnde Flammen. über den Weißbach hinweg geht der Weg bergauf. Jetzt sind sie auf der Höhe. Vor ihnen glänzt das Wasser des Alacher Sees. Irrlichter tanzen auf der Oberfläche.

Der Fremde legt sich oben auf den Berg. Seine Gestalt erscheint im Licht der qualmenden Lampen ins Riesenhafte gewachsen zu sein. Sein Kopf beugt sich über das Wasser. Neugierig stehen die Mönche um ihn, jeder Laut verstummt. Der Fremde schlürft, schlürft und schlürft. Der Wasserspiegel sinkt. Der erste Zug und noch einer und wieder einer. Mehr und mehr verschwindet das Wasser des Sees. Noch einer, dann ist der See leer, die Wette gewonnen. Die Mönche stehen sprachlos, entsetzt. Zum letzten Zuge setzt der Fremde an, da kräht im nahen Alach der Hahn und verkündet den Morgen. Im selben Augenblick erschüttert ein gewaltiger Donnerschlag die Luft. Erschrocken fallen die Mönche zur Erde. Gleichzeitig zieht ein heller, gelber Lichtstreifen über die Wasserfläche dahin, den Weg bezeichnend, den der Fremde genommen. Im Scheine des Lichtes sehen die Mönche an ihm einen Pferdefuss. Schwefelgeruch erfüllt die Luft. Im Norden, jenseits des Tales, schießt eine Feuergarbe zum Himmel empor. In weiter Ferne erklingt ein hässliches, höhnisches Lachen. Da erwachen die Mönche von ihrem Schrecken und wissen, dass sie den Teufel zum Gast im Kloster hatten. Entsetzt eilen sie heim, fallen, stolpern, verlieren die Lichter, laufen und fliehen, jetzt plötzlich ernüchtert. Sie kommen ins Tal, hasten die Bergwand empor. Fremd erscheint ihnen die Gegend, unbekannt. Sie suchen, sie rufen, kein Laut, keine Antwort. Ihr Kloster ist verschwunden. So strafte Gott, weil sie durch Unheiliges das Heilige entweihten.

Sie rufen und suchen noch heute. Wer in den zwölf Nächten durch jene Gegend bei Nacht wandern muss fürchtet und hütet sich. Jeder der hört, wenn der Wind durch die Wipfel der Bäume pfeift und saust, der hört dann noch heute die Stimmen der suchenden Mönche, ihr Heulen, ihr Rufen, ihr Jammern.

Und kommst Du zum Alacher See, jene Senke zwischen den Bergen war die Stelle, wo der Teufel lag. Wenig fruchtbar ist sie bis zum heutigen Tage geblieben. Die Terrassen der Uferwand zeigen jeden einzelnen Zug des Teufels beim Trinken an. Und sein Weg beim Hahnenschrei? Der Mollbachlauf mit hohem Schilf und dichtem Weidengebüsch weist ihn Dir. Wagst Du Dich aber hinein in den See, dann versinkst Du im tiefen Moor. Niemand kann Dir helfen und deine Seele, sie gehört dann auch dem Teufel zu Eigen.